Donnerstag, 21. Juli 2011

Etikettenschwindel

 
Von Sebastian Carlens (junge Welt)
Auf dem Portal lebensmittelklarheit.de können Verbraucher jetzt Nahrungsmittel melden, deren Kennzeichnung nicht mit dem Inhalt übereinstimmt. Die vom Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) betriebene Webseite wurde am Mittwoch freigeschaltet und in Berlin auf der Bundespressekonferenz von Bundesverbraucherministerin Ilse Aigner (CSU), dem vzbv-Vorstand Gerd Billen und Projektleiter Hartmut König von der Verbraucherzentrale Hessen vorgestellt. Aigners Ministerium fördert das Projekt zwei Jahre lang mit 775000 Euro.
Auch die Novelle des Verbraucherinformationsgesetzes (VIG) stand auf der Tagesordnung der Bundespressekonferenz. Das 2008 in Kraft getretene VIG hatte sich in der Praxis als untauglich erwiesen. Hohe Kosten und monatelange Wartezeiten schreckten Konsumenten davon ab, Anfragen zu Produkten zu stellen. Das Kabinett beschloß nun eine Verringerung der anfallenden Kosten sowie eine Ausweitung der Produktgruppen, die durch Verbraucher abgefragt werden können, auf weitere haushaltstypische Artikel.
Das neue Internetportal soll dem »König Kunde« die Möglichkeit geben, sich direkt zu äußern, warb Gerd Billen. Eine Internetredaktion werde Schmähkritik verhindern und eine fachlich korrekte Einordnung in die drei Kategorien »Getäuscht«, »Geändert« und »Erlaubt« vornehmen, erläuterte Projektleiter König. Der Hersteller habe in jedem Fall die Möglichkeit, ebenfalls zu Wort zu kommen. Über Grauzonen informiere die Rubrik »Erlaubt!«. Dort erfährt der Verbraucher unter anderem, daß nur ein einziger Verarbeitungsschritt, bei der Verpackung beispielsweise, im Schwarzwald selbst nötig sei, um einen Schinken als »Schwarzwälder« vermarkten zu dürfen. Dies ist und bleibt – trotz Gesetzesnovelle und Portal – vollkommen legal.
Ministerin Aigner erklärte, mit dem Internetservice »einen seriösen Dialog zwischen Verbrauchern und Wirtschaft anstoßen« zu wollen. Wie schnell man sich zwischen alle Stühle setzen kann, dürfte sie in diesen Tagen erfahren haben. Das, was Verbraucherschützern und der Opposition nicht weit genug geht, wird von den Lobbyistenverbänden der Nahrungsmittelindustrie, aber auch vom Koalitionspartner heftig angegriffen. Einen »Pranger für Ware, die rechtlich in Ordnung ist«, nannte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie*, Matthias Horst, das Portal gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung. Auch aus der FDP wurde Kritik an dem Projekt laut: Die Ministerin fahre »einen ihrer typischen Alleingänge«, bemängelte der FDP-Agrarexperte Michael Goldmann in derselben Zeitung. Sie transportiere »die Ängste der Verbraucher vor Lebensmitteln«.
Die stellvertretende Fraktionschefin der Grünen, Bärbel Höhn, sagte dem Hamburger Abendblatt am Mittwoch, die Internetseite sei kein Ersatz für gesetzliche Regelungen gegen irreführende Werbung. Aigner dürfe die Verantwortung nicht allein den Konsumenten aufbürden, so Höhn. Die Verbraucherschutzorganisation foodwatch kommentierte gegenüber junge Welt, daß das neue Portal zwar durchaus als Schritt in die richtige Richtung zu werten sei. »Grundsätzlich aber kann ein solches Informationsportal die eindeutige Kennzeichnung von Lebensmitteln nicht ersetzen«, sagte Andreas Winkler von foodwatch der jungen Welt. Nach der offiziellen Freigabe am Mittwoch war das Portal nahrungsmittelklarheit.de im Internet zunächst nicht erreichbar.
*Vor was hat dann dieser Horst Angst? Wenn alles in Ordnung ist, könnten doch tausende Pranger entstehen und niemand würde angeprangert werden. Oder ist es doch das schlechte Gewissen bzw. die Gewissheit, die ihn plagen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen