Dienstag, 21. Dezember 2010

Ein nützlicher Idiot?

Nicht wenige sehen in Julian Assanges Enthüllungsplattform ein Werkzeug westlicher Geheimdienste. Doch sie verwechseln Wikileaks und Mainstreammedien
Von Rainer Rupp (Junge Welt)
Ist Julian Assange der Comandante der globalen Internet-Guerillakämpfer im Infokrieg gegen Lügen und Manipulation der menschenverachtenden Eliten des Kapitals? Oder ist der Wikileaks-Chef deren nützlicher Idiot, der unwissentlich Spielmaterial verbreitet, das von Geheimdiensten zusammengestellt wurde, die er eigentlich bekämpfen will? Oder, schlimmer noch, steckt er mit diesen Mächten sogar unter einer Decke? Alles scheint möglich, an der Person von Assange scheidet sich derzeit die Meinung von vielen Linken wie schon lange nicht mehr.
Gegen die globale Umweltzerstörung, die globalen Terrorkriege des US-Imperiums und seiner neokolonialen europäischen Helfer, gegen die als »Finanzkrise« getarnte globale Betrugsorgie zur Umverteilung von unten nach oben, gegen den Wust der Lügen in der Politik gibt es nun endlich einen globalen Widerstand. Der ist so effizient und wirksam, daß die globalen Eliten voller Wut mit einer Schmutzkampagne gegen Wikileaks und deren Aushängeschild Julian Assange reagiert haben. Das ist die Meinung nicht weniger Unterstützer der Enthüllungsplattform, die sich nicht nur aus dem linken Lager rekrutieren, sondern auch aus der kritischen bürgerlichen Mitte.
Alles Täuschung, rufen dagegen auch nicht wenige linke Assange-Kritiker. Zum Beweis verweisen sie auf eine Reihe von Indizien, die sie zusammengetragen haben, von denen einige durchaus nachdenklich stimmen können, aber sicher auch daher rühren, daß von Assange – fälschlicherweise – erwartet wird, daß er sich wie ein Genosse verhält. Der schwerwiegendste Vorwurf gegen den Wikileaks-Chef lautet, ein Werkzeug westlicher Geheimdienste zu sein. Als Indiz dafür wird angeführt, daß die jetzt veröffentlichten Botschaftsdokumente von den verschiedenen Brennpunkten der Welt keine neuen Erkenntnisse enthalten, sondern nur das bestätigen, was kritischer Journalismus bereits an den Tag gebracht hat.
Im Fall des Irak, so gehen die Vorwürfe weiter, werde sogar die Präventivkriegspolitik der Regierung von US-Präsident George W. Bush gerechtfertigt, u.a. mit Depeschen aus Bagdad – allerdings ohne Orts- und Quellenangaben –, wonach in der Zeit nach der US-Invasion angeblich Giftgasgranaten gefunden wurden. Zugleich aber – und das ist der weitaus schlimmere Vorwurf – bestätigten die Wikileaks-Dokumente die Verdächtigungen und Vorwürfe Washingtons gegen US-Gegner, und sie dienten insbesondere der Kriegsvorbereitung gegen den Iran. Stelle man die Frage, wem das alles nütze, dann bliebe nur ein Schluß: Assange arbeitet bewußt oder unbewußt für US-amerikanische und/oder israelische Dienste.
Aber was erwartet der linke Kritiker eigentlich in den von Wikileaks publizierten Depeschen zu finden? Etwa daß US-Diplomaten ohne Rücksicht auf ihre weitere Karriere bemüht sind, der objektiven Wahrheit vor Ort möglichst nahezukommen und dabei die von ihren Chefs in Washington betriebene offizielle Linie zu konterkarieren? Erfahrungsgemäß ist das Gegenteil der Fall. Lokale Nachrichten, der Inhalt vertraulicher Gespräche und Gerüchte werden solange bearbeitet, bis sie die von Washington vorgegebene Linie bestätigen oder ergänzen.
Das Problem, daß die ungefilterte »Wahrheit« in offiziellen Botschaftsdepeschen nur selten zu finden ist, hat ein großer Praktiker der Materie, der langjährige sowjetische Kundschafter Kim Philby, in seinem 1968 erschienen Buch »My Silent War« (Meine lautloser Krieg) hervorragend beschrieben. Auf keinen Fall dürfe sich ein Journalist von dem Nimbus des »Botschaftsdokumentes« blenden lassen, warnt er, denn die Tatsache, daß es ein Dokument ist, sage noch lange nichts über den Wert seines Inhalts aus. »Dieses Dokument aus der US-Botschaft in Amman z.B. – war es der erste Entwurf, der zweite oder bereits ein abgeschlossenes Memorandum? Wurde es von einem hochrangigen Offiziellen verfaßt oder von einem Subalternen, der eine schlaue Idee hatte? Wurde es in ernster Absicht geschrieben oder sollte es lediglich den Ruf seines Verfassers fördern?«, lautet eine Passage im Buch des Meisterkundschafters. »Eine Stunde ernsthafter Diskussion mit einem vertrauenswürdigen Informanten«, der über die Zusammenhänge Auskunft gibt, ist laut Philby »oft mehr Wert als eine große Zahl von Originaldokumenten«. Am besten jedoch sei es, »wenn man beides« habe.
Der Wert eines Dokumentes, insbesondere aus den Botschaften, ergibt sich meist erst aus dem Zusammenhang. Dort herausgerissen, ist es oft nicht viel mehr wert als das Papier für »stille Örtchen«. Zu genau dem aber haben die Mainstreammedien die US-Depeschen umgewandelt, nachdem sie Wikileaks einigen ausgesuchten Häusern vorab zur Analyse geschickt hatte. Sie beschränkten sich auf Klatsch und Tratsch und suchten jene Passagen heraus, welche die Bush-Administration im nachhinein von Verbrechen freisprechen und zugleich neue, aber nicht weniger erlogene Kriegsgründe gegen Iran auftischen.
Die wirklich brisanten Dokumente, welche in den Botschaftsdepeschen auch zu finden sind, wurden offensichtlich ganz bewußt und in vorausseilendem Gehorsam »übersehen«. Dafür aber kann man weder Wikileaks noch Assange verantwortlich machen*.
*Warum nicht? Hatte nicht Wikileaks die "ausgesuchten Häuser" ausgewählt und somit diese Art der Verbreitung gesucht?

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